Spirituelle Krise – drei Seiten der Medaille – Anjas Erfahrungen

Was eigentlich ist eine spirituelle Krise? Der Klappentext eines der bekanntesten Bücher zum Thema beschreibt es so: »Auf dem Weg zu Transformation und Persönlichkeitsentwicklung geraten viele Menschen in ’spirituelle Krisen‘. Diese neuen Ebenen mystischer Erfahrungen oder außergewöhnlicher Bewusstseinszustände treten plötzlich auf, werden als überwältigend und verwirrend erlebt und oft von einem Identitätsverlust begleitet.

Sie wurden in der klassischen Psychiatrie bisher meist wie gewöhnliche psychische Krankheiten behandelt. Spirituelle Krisen können jedoch, wenn sie entsprechend verstanden und begleitet werden, Durchbrüche sein und ein enormes positives Potential für körperliche und emotionale Heilung beinhalten«. (Stanislav und Christina Grof: Spirituelle Krisen – Chancen der Selbstfindung, Kösel-Verlag 1990).

Eine spirituelle Krise ist also eine Bewusstseinserweiterung, die den Menschen in Bereiche führt, mit denen umzugehen er aufgrund seiner bisherigen Lebenserfahrung nicht gelernt hat. Die Symptome, die er dann möglicherweise entwickelt, können denen anderer psychischer Erkrankungen gleichen.

Meine Geschichte – Wie alles begann

Weichen auf dem LebenswegBei mir persönlich sah die Geschichte folgendermaßen aus: Ich war krank, jahrzehntelang. Ohne es zu wissen. Ich lebte ein funktionierendes Leben, war erfolgreich in Schule und Studium und später im Beruf. Gleichzeitig aber auch immer auf der Suche. Auf der Suche nach Liebe, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Als ich merkte, dass ich beides nicht fand, wurde ich depressiv. Die Krankheit war ins Bewusstsein gerückt und jetzt nicht mehr zu leugnen. Ich machte Psychotherapie, nahm Medikamente, doch Heilung fand ich nicht. Das Gefühl des Krankseins verstärkte sich, und im Herbst 2005 schied ich aufgrund der Depression aus meinem damaligen Job als Flugbegleiterin aus.

Die mystische Erfahrung

Das »Nicht-mehr-funktionieren-müssen« verschaffte mir Erleichterung und ließ in mir einen Raum entstehen, in den hinein sich eines Tages eine mystische Gotteserfahrung entwickelte. Es war überwältigend. So, als ob Gott selbst mir aus den Wolken zulächelte und sagte: »Und nun, meine kleine Anja, zeige ich Dir, dass es mich wirklich gibt«. Ein Gefühl von Glückseligkeit erfüllte mich, ich lachte und weinte gleichzeitig und spürte eine unendliche Erleichterung. Mein Leben hatte begonnen, endlich. Mit knapp 38 Jahren fühlte ich mich, als sei ich eben erst geboren worden. Ich war im Frieden mit allem, was bisher in meinem Leben passiert war und hatte auch keine Angst vor der Zukunft. Von Krise keine Spur, oder? Nein, zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich wusste, dass mir etwas widerfahren war, das mein Leben von Grund auf ändern würde und wurde übermütig, zu übermütig.

Folgen der Erfahrung

Ich traute mich, meinem Psychiater von meinen Empfindungen zu erzählen. Da war es vorbei mit dem Übermut, denn er sagte mir kurzerhand, ich hätte eine Psychose und bräuchte ein Neuroleptikum, und zwar dringend. Zum Glück ließ ich mich nicht von ihm verrückt machen, sondern verabschiedete mich einige Zeit später aus seiner Praxis. Es folgten ein paar Monate, in denen ich sehr zurückgezogen lebte und das, was geschehen war, auf mich wirken ließ. Ruhe, Meditation, Yoga, viel frische Luft und gesundes Essen wurden zu den Grundpfeilern meines Lebens.

Ich erkannte, warum ich depressiv geworden war: Ich hatte schon in frühester Kindheit gelernt, schmerzhafte Gefühle abzuspalten und sie mir nicht anmerken zu lassen. Auf diese Weise war ich mir selbst verloren gegangen. Von nun an wollte ich authentisch sein, mir und meiner Seele die Treue halten und mich der neu gewonnenen inneren Führung überlassen.

Hochsensibilität

Irgendwann hatte ich das Gefühl, wieder »zurück ins Leben« gehen und mir eine neue Aufgabe suchen zu sollen. Und damit begann die Krise. Denn ich war nicht mehr  »gesellschaftsfähig«. Nach der langen Phase des Alleinseins und des Lebens in der Abgeschiedenheit von den Reizen eines gewöhnlichen Alltags hatten meine Sinne sich verschärft. Ich nahm alles ungleich stärker wahr als zuvor. Laute Geräusche erschreckten mich, lautes Lachen nervte mich und Stress in jedweder Form brachte mich schnell an die Grenzen des Erträglichen. Ich hatte die Symptome eines hochsensiblen Menschen entwickelt, im Englischen: einer »Highly sensitive person« (HSP). Das Phänomen der Hochsensibilität ist inzwischen wissenschaftlich anerkannt, und es existieren etliche Publikationen darüber.

Meine erweiterte Wahrnehmung erstreckte sich auch auf die Gefühle der Menschen in meiner Umgebung. Mitunter kam es mir so vor, als könnte ich ihre Gedanken lesen. Vor allem erfasste ich ihre energetische Schwingung, d.h. ob sie in der Liebe schwangen oder nicht. Das, was sich mir auf diese Weise erschloss, war oft genug erschreckend. Das allgegenwärtige Leiden und die Lieblosigkeit auf Erden trafen mich mit einer vorher nicht gekannten Härte. Das war der Nachteil des Prozesses des Erwachens: Ich konnte mich nicht mehr abgrenzen. Meine Kanäle waren durchlässig geworden für das Schöne und Erhebende, aber auch für das Grausame und Zynische.

Heilend Wirken-Wollen

Zunehmend verspürte ich den Wunsch, mein neues Wesen sinnvoll in die Welt einzubringen. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen als mit der Seele zu arbeiten, heilend tätig zu werden und andere Menschen von der Erfahrung profitieren zu lassen, die ich gemacht hatte. Inzwischen weiß ich, dass das nicht funktioniert. Jeder Mensch muss seine eigenen Erfahrungen machen, wie schmerzhaft auch immer diese sein mögen. Keiner kann einen anderen vor dem Schicksal bewahren, das ihm zugedacht ist. Mein Schicksal sah vor, mich den Versuch unternehmen zu lassen, Psychotherapeutin zu werden.

Offenen Herzens klopfte ich an verschiedene Türen in der Hoffnung, auf jemanden zu treffen, der mich dabei unterstützen würde. Ich stieß auf eine Mauer aus Arroganz, Konkurrenzdenken und Neid und zog mich schließlich enttäuscht zurück. Ich hatte mich einer Illusion hingegeben – der Illusion, dass diejenigen, die sich das psychische Wohl des Menschen auf die Fahnen schreiben, gleichgesinnte Talente erkennen und fördern würden. Eine andere Illusion war es, wieder belastbar genug zu sein, um mich den Herausforderungen einer neuen Ausbildung und eines beruflichen Alltags stellen zu können.

Zusammenbruch

Zweieinhalb Jahre nach der mystischen Einheitserfahrung war es dann soweit. Das energetische Schutzschild, das mir der Prozess am Anfang beschert und mir so viel Motivation verliehen hatte, hatte seine Kraft verloren. Die erfahrenen Kränkungen holten mich ein und trafen mich nun – zeitlich verzögert – mit voller Wucht. Auch das ist übrigens ein Merkmal hochsensibler Menschen. Sie brauchen viel mehr Zeit, um Reize zu verarbeiten und reagieren dementsprechend langsam.

Nach einem weiteren traumatischen Ereignis (einem Betreuungsverfahren, das mein ehemaliger Psychiater gegen mich in die Wege geleitet hatte) wurde das spirituelle Erwachen endgültig zur Krise und katapultierte mich in die Psychose. Überwältigt vom Überbewussten und vom Unterbewussten, fühlte ich mich in frühere Leben zurück versetzt, verfolgt und mit dem Tode bedroht und erlebte die Schrecken früherer Generationen sowie unverarbeitete Traumata aus der eigenen Kindheit – ein einziges Horrorszenario, aus dem es kein Entkommen gab.

Einige Male musste ich in stationäre Behandlung und Neuroleptika nehmen. Ich befürchtete, dadurch den Kontakt zu meiner transpersonalen Quelle zu verlieren, und einige Monate lang war das auch so. Mit dem Reduzieren der Medikamentendosis gelangte ich aber schrittweise wieder zu einer für mich annehmbaren Lebensqualität und fühle mich heute in meinem spirituellen und emotionalen Empfinden dadurch nicht mehr eingeschränkt. Ganz wichtig war es für mich, die Inhalte meiner Psychosen aufdeckend zu verarbeiten. Erst nachdem ich verstanden hatte, welche Bewusstseinsinhalte durch sie ausgedrückt werden sollten, konnte ich mich mit ihnen aussöhnen.

Integration der Erfahrungen

Marianne Gallen, eine transpersonal orientierte psychologische Psychotherapeutin, beschreibt diesen Prozess auf ihrer Homepage folgendermaßen: »Sie [die Symptome spiritueller Krisen] verschwinden in der Regel erst dann wieder, wenn die außergewöhnlichen Erfahrungen körperlich und seelisch verarbeitet und in den eigenen Lebenszusammenhang integriert worden sind. Eine solche Verarbeitung und Integration kann, je nach dem Ausmaß der ‚Erschütterung‘, Tage, Monate oder viele Jahre in Anspruch nehmen. Meist werden von den betroffenen Personen tiefe Einsichten und ein Zuwachs an Verstehen erlebt, deren Wahrheitsgehalt so eindrücklich ist, dass ein neuer Sinnzusammenhang entsteht«.

Der Prozess der Integration war bei mir der Prozess der vielen kleinen Schritte. Nach den Aufenthalten in der Psychiatrie und den damit verbundenen negativen Erfahrungen war ich  demoralisiert und glaubte, nie wieder auf die Beine zu kommen. Die größte Gefahr bei und nach einem Psychiatrie-Aufenthalt liegt in meinen Augen darin, den Respekt vor sich selbst zu verlieren dadurch, dass man respektlos behandelt wurde. Und: Zynisch und böse zu werden angesichts der Kränkungen, die man dort erfährt. Es war mir bewusst, dass ich auf keinen Fall vergessen durfte, wie kraftvoll und positiv die Erfahrung der spirituellen ÖffnuBlühen im Spaltng anfangs auf mich gewirkt hatte.

Und doch passierte es immer wieder, dass ich vergaß und stattdessen mit dem haderte, was sie mir im Nachhinein beschert hatte. Oft genug dachte ich: »Ich bin verrückt geworden, weil ich gesund geworden bin«. In gewisser Weise war es ja so. Und doch habe ich sehr viel dabei und über mich gelernt. Vor allem durch das, was mich aus dem tiefsten Elend herausgeführt hat: Auf die ganz kleinen Dinge des Lebens schauen, die Freude bringen. Und: mich selbst verstehen und akzeptieren lernen, in all meinen lichtvollen, aber auch schattenhaften Aspekten. Ein Ganzes werden, eine Einheit, die in vielen Facetten sichtbar werden darf und genau dadurch den Platz in der Welt einnimmt, der ihr zugedacht ist.

 

 

3 Gedanken zu „Spirituelle Krise – drei Seiten der Medaille – Anjas Erfahrungen“

    • Auf meine Diagnosen (von Schizophrenie bis manisch- depressiv) gehe ich in meinem Buch „Bilder als Spiegel meiner Seele“ nicht ein, denn ich habe ekannt, dass es sich bei mir um eine eine Spirituelle Krise handelt.
      Nach einer langen Suche verstehe ich heute „Gott und die Welt sowie mich selbst.“ Bin ich aber wirklich erst geheilt, wenn ich keine Medikamente mehr brauche? Aus verschiedenen Gründen habe ich meine Medikamente immer wieder weggelassen – bin auf die Nase gefallen und wieder aufgestanden. Schließlich musste ich feststellen, dass Medikamente mich doch vor Überforderungen aus der Umwelt schützen.
      Danke für Anjas Erfahrungsbericht. Über die Frage der Heilung würde ich mich gerne näher mit ihr und anderen austauschen.

      Mein Buch: „Bilder als Spiegel meiner Seele“, liegt inzwischen (mit Indesign gestaltet) als Pdf vor. Es ist eine Lebensbeschreibung an den Stationen eigener Werke. Jetzt suche ich nach einem Verlag. Möglicher Weise werde ich es auszugsweise im Internet veröffentlichen. Meine Webseite http://www.innere-heilung.de zeigt immer noch den Stand von 2012.

      Antworten
  1. Liebe Annegret,

    danke für Ihren Beitrag und den Hinweis auf Ihre Webseite.

    Ist es verrückt, sich als „heil“ zu bezeichnen, wenn man diagnostiziert ist mit einer schizoaffektiven Störung und Medikamente nimmt? Ja, ich glaube schon.
    Ich glaube aber auch, dass es verrückt ist, von Ehrgeiz getrieben durch diese Welt zu ziehen, immer im Bestreben, sich zu beweisen und ständig auf der Suche nach einem „Höher – Schneller – Ich!“.

    Ich glaube, dass derjenige als „heil“ zu bezeichnen ist, der zufrieden ist im Hier und Jetzt und im Einklang lebt mit dem, was die Seele ihm sagt. Was geheilt werden soll, hängt ja immer von dem ab, was unheil ist. Im Nachhinein betrachtet hat das Unheil meiner Psychosen mich voran gebracht auf dem Weg der Selbst-Vervollständigung. Weil sie (d.h. die Psychosen) mir Einblick gewährt haben in verborgene Potenziale und kollektives Wissen. Ihrer Webseite entnehme ich, dass es bei Ihnen ähnlich war.
    Das Unheil meines Wollens und Strebens jedoch hat mich anderes gelehrt: Dass es Gottes Wille ist, der zählt, nicht mein eigener. Und dass ich darauf vertrauen darf, von IHM beschützt zu werden, wenn es kein anderer mehr tut.

    Obwohl ich klinisch gesehen schizoaffektiv gestört bin und Psychopharmaka nehme, fühle ich mich heute heiler als früher. Denn heute weiss ich, WARUM ich Medikamente brauche. Die Zustände des Heilseins und auch die Heiligkeit, die ich erfahren durfte, bevor ich psychotisch wurde, sind für mich zum Referenzpunkt geworden. Im bereits erwähnten Buch von Stanislav Grof beschreibt der Psychiater Roberto Assagioli sehr schön die Dynamik, die entsteht, wenn solche Referenzpunkte im Leben auftauchen. Das Buch hat mir auch in anderer Hinsicht dabei geholfen, meine spirituellen Erlebnisse besser einzuordnen.

    Ich wünsche Ihnen, dass Sie einen Verlag finden für Ihr Buch. Ich wünsche Ihnen aber auch, dass Sie nicht allzu enttäuscht sind, wenn es nicht klappt. Letztlich zählt doch, dass wir selbst unseren inneren Reichtum würdigen und den Weg wertschätzen, den wir gegangen sind.

    Alles Gute und viele Grüße, Anja

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