Kundalini – Entwicklung des inneren „Heil-Werdens“

Das Kundalini-Modell spricht von einer »Schlangenkraft«, die zusammengerollt bei jedem Menschen am unteren Ende der Wirbelsäule ruht – schlafend. Sie kann aber auch erwachen, dann geht es rund. Unermüdlich steigt sie im physischen System nach oben, vorzugsweise im sogenannten »zentralen Kanal« und reinigt dabei die Energiezentren (Chakren) von allen Blockaden. Demjenigen, der das erlebt, fahren Stromstöße durch den Körper, es sind Hitze- und Energiebewegungen spürbar, Zittern, Schweißausbrüche, sexuelle Über-Erregung, die sich nicht entladen kann, kann auch zu den Symptomen gehören.

Ziel dieser Reise ist die Vereinigung der weiblichen Schlangenkraft, auch »Shakti« genannt, mit ihrer männlichen Entsprechung »Shiva« im Kronenchakra – eine »himmlische Hochzeit«.      

Zyklisches Modell

In dem Kundalini-Modell, das ich am besten kenne (Joan Harrigan), ist die »Reise« damit aber noch nicht zu Ende. Nach der Vervollständigung des Aufstiegs, führt der Prozess wieder zurück durch alle Chakren, um am Ende im gereinigten Zentral-Kanal noch einmal aufzusteigen. Hier sucht sich dann die Schlangenkraft in einem Energie-zentrum einen bevorzugten Aufenthaltsort.  Nach Swami Chandrasekharanand Saraswati, der dieses Modell seiner Schülerin Joan Harrigan zur Veröffentlichung übergeben hat, tritt der Yogi nun in einen fortgeschrittenen Prozess ein, eine kontinuierliche spirituelle Ausrichtung, die noch viele weitere Erfahrungen ermöglicht.

Diese »Landkarte« einer spirituellen Reise ist also ein zyklisches Modell: Aufstieg, Wieder-Abstieg, erneuter Aufstieg, das kann sich unzählige Male wiederholen und dient der Reinigung eines »Kanals« – es geht also um Durchlässig-Werden.

Durchlässigkeit und Zentrierung

Der zentrale Kanal wird in verschiedenen Lehren unterschiedlich beschrieben und auch an verschiedenen Orten im Körper lokalisiert. Manche setzen ihn mit dem Verlauf der Wirbelsäule gleich.

Mir selbst gefällt die Vorstellung am besten, dass es sich um eine imaginative Linie handelt, die den physikalischen Körperschwerpunkt beschreibt: Wir stellen uns vor, dass wir am obersten Punkt unseres Schädels an einem »seidenen Faden« hängen (eine Anleitung aus dem QiGong) und sich der Rest des Körpers natürlich »ausbaumelt«. Die physikalische Schwerpunktlinie liegt dann etwas innerhalb des Rückgrats, aber nicht genau in der Mitte des Körpers, da der knochige Rücken schwerer ist als seine Vorderseite. Sie verbindet alle Chakren (Energiezentren) miteinander und kann auch als Symbol für unsere Durchlässigkeit gegenüber dem Göttlichen verstanden werden.

Je besser wir uns in unserem Körperschwerpunkt innerlich »versammeln« können, desto weniger Muskelkraft wird für die aufrechte Haltung benötigt. Das Aufrecht-Sitzen ist in fast allen Meditationsformen eine grundsätzliche Voraussetzung. Man kann das auch im übertragenen Sinne verstehen: Je mehr ich mich in meiner inneren Ruhe und Unbewegtheit im Lot befinde, desto einfacher werden alle Verrichtungen des täglichen Lebens. Der Körperschwerpunkt als Ruhepol im »Auge des Zyklons«.

Für mich symbolisiert der Zentral-Kanal auch mein menschlich-weltliches Aus- und Aufgerichtet-Sein zwischen den Kräften und Gegensätzen von Himmel und Erde. Gleichzeitig fallen all diese vermeintlichen Polarisierungen in meiner (Herz-)Mitte zusammen – es gibt sie ja nicht wirklich.

Der kräftige Rücken und die weiche Vorderseite des Körpers

Ein kräftiger, aufrechter Rücken gilt im normalen Sprachgebrauch als Zeichen von Furchtlosigkeit und menschlicher Stärke. Ich setze diese Metapher auch damit gleich, was im psychologischen Bedeutungszusammenhang als »starkes Ich« bezeichnet wird – menschliche Stabilität.

Joan Halifax Roshi, die Äbtissin des Upaya Zen Center spricht vom starken Rücken (»strong back«) kombiniert mit einem weichen Bauch (»soft belly«). Sie benutzt das als Metapher für ein spirituelles Leben, das von Mitgefühl, Weisheit und Furchtlosigkeit getragen wird. Nach ihr erinnert uns der starke Rücken daran, auf- und einzustehen für die Werte, die uns lieb und teuer sind. Es ist der innere Mut, auf den wir uns beziehen, wenn wir nein sagen können zu den Dingen, die ungerecht sind oder nicht zum besten Interesse aller. Der weiche Bauch erinnert uns daran, in allen unseren Handlungen Mitgefühl zu verkörpern. Es meint auch das grundsätzliche Annehmen, das wir auf uns selbst und unsere menschlichen Schwächen ausdehnen und die Haltung von liebender Güte in allen unseren persönlichen Beziehungen.

Die Schlange und ihre Aufrichtung

Bild: © Andrea Damm_pixelio.de

Nach meinem Verständnis geht es also im Kundaliniprozess in erster Linie darum, dass die »Schlange« sich aufrichtet. Ob sie nun männlich oder weiblich ist, sei dahin gestellt – in der Freud’schen Traumsymbolik wird ja das Auftauchen der Schlange immer als Phallus-Symbol gedeutet.

In Heiltraditionen ist die Schlange ein Symbol für die Heilkraft. Deshalb schmückt sie auch den Stab des Äskulap, der den Ärzten als Machtinsignium in die Hand gegeben wird.

So betrachtet, kann man den Kundalini-Prozess auch als die Entwicklung des inneren Heil-Werdens verstehen.

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Weiterführende Informationen zur Kundalini: Blog von Tanja Braid

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