Als ich vor über 10 Jahren gemeinsam mit anderen die Initiative »Spirituelle Krisen und Transformation« gegründet hatte, wurde ich auf das »Perlengedicht« von Sören Kahl aufmerksam gemacht. Es heißt dort:
Man erzählt sich die Geschichte einer Perle hier am Strand.
Sie entstand in jener Muschel durch ein grobes Körnchen Sand.
Es drang ein in ihre Mitte und die Muschel wehrte sich.
Doch sie musste damit leben und sie klagte: Warum ich?
Eine Perle wächst ins Leben, sie entsteht durch tiefen Schmerz.
Und die Muschel glaubt zu sterben, Wut und Trauer füllt ihr Herz.
Sie beginnt es zu ertragen, zu ummanteln dieses Korn.
Nach und nach verstummt ihr Klagen und ihr ohnmächtiger Zorn.
Viele Jahre sind vergangen. Tag für Tag am Meeresgrund
schließt und öffnet sich die Muschel. Jetzt fühlt sie sich kerngesund.
Ihre Perle wird geboren. Glitzert nun im Sonnenlicht.
Alle Schmerzen sind vergessen, jenes Wunder jedoch nicht.
Jede Perle lehrt uns beten, hilft vertrauen und verstehn,
denn der Schöpfer aller Dinge hat auch deinen Schmerz gesehn.
Nun wächst Glaube, Hoffnung, Liebe, sogar Freude tief im Leid.
So entsteht auch deine Perle, sein Geschenk für alle Zeit.
Die kleine Gruppe, die sich zu dieser Zeit regelmäßig in meiner Praxis getroffen hat, war eine Gemeinschaft von »Perlenfischern« – Menschen, denen das Leben Schicksalsschläge und Krisen zugemutet hatte, die aber offen waren, daran zu wachsen und daraus zu lernen. Oder anders ausgedrückt: Bereitwillige, sich von solchen Lernerfahrungen umformen zu lassen.
Selbstvergessenheit
Einige Jahre später fiel mir ein anderes »Perlengedicht« in die Hände, es stammt von Zhuangzi, einem chinesischen Dichter und Philosophen, der im 4. Jahrhundert vor Christus gelebt hat.
Wer findet die Perle?
Der Herr der gelben Erde wandelte jenseits der Grenzen der Welt.
Da kam er auf einen sehr hohen Berg und schaute den Kreislauf der Wiederkehr.
Da verlor er seine Zauberperle.
Er sandte ERKENNTNIS aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder.
Er sandte SCHARFBLICK aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder.
Er sandte DENKEN aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder.
Da sandte er SELBSTVERGESSEN aus. SELBSTVERGESSEN fand sie.
Der Herr der gelben Erde sprach:
»Seltsam fürwahr, dass gerade SELBSTVERGESSEN fähig war, sie zu finden!«
Für mich selbst würde ich es so ausdrücken: Seit ich mich bewusst auf »spirituellen Wegen« bewege, sind mir so einige Vorstellungen darüber, wer ich bin und wofür ich mich halte, abhanden gekommen. Wenn mein Geist neue Bilder produziert, die diese Lücke füllen wollen, sehe ich solchen Gedankenspielen eher aus einer (meist) amüsierten Beobachterposition zu.
Das »authentische Selbst«
Die »Perle«, die da immer wieder mal aufblitzt und ihre Strahlkraft entfaltet, umschreibe ich heute mit der Metapher des »authentischen Selbst«. Ich erlebe sie als eine Seins-Qualität, die etwas mit meinem tiefsten Wesen zu tun hat – individuell, einzigartig und wahr. Sie stellt keinen Besitz dar, der mir gehört und kann mir daher auch nicht weggenommen werden. Um sie zu entdecken und zu polieren, musste ich durch manche »Höllenerfahrung« gehen und manche »dunkle Nacht« durchleben – Heldenreisen.
Wie von einer richtigen Reise, kehren wird auch von solchen Tripps erfahrener zurück und können über ereignisreiche Erlebnisse berichten: Von den Dämonen und Monstern, die uns unterwegs begegnet sind und von den Helfern, die dann auch da waren. Manche von uns treffen unterwegs auch auf »Licht«, »universelle Liebe« oder das »Nichts«. Festhalten können wir keines dieser wunderbaren Geschenke und nichts davon mitbringen. Aber all diese Erfahrungen tragen dazu bei, dass unsere »Perle« glänzend und strahlend in der Welt erscheint.